Was darf Kunst und wo gibt es Grenzen?

1. Der Antisemitismus-Skandal hat die documenta fifteen als globale Kunstausstellung überschattet – wie konnte es dazu kommen und welche Vorkehrungen treffen Sie für die nächste documenta?
Die von der documenta maßgeblich geprägte Entwicklung zeitgenössischer Kunst von einem gesellschaftlichen Erlebnisraum zu einem kollektiven soziokulturellen Raum der Erfahrung, des Austausches und des Diskurses kosmopolitischer, globaler Fragen hat den Begriff der Kunst vom künstlerischen Werk über das künstlerische Wirken bis zur hinter Werk und Wirken liegenden Idee beständig erweitert. Auf der vorläufigen Endstufe „Lumbung“ ist Kunst die alltägliche Gemeinschaft und die Verwirklichung sozialer Prinzipien. Wenn sich aber der Kunstbegriff so erweitert hat, dass das alltägliche Leben zur Kunst wird, was bedeutet das für den Schutz der Kunstfreiheit? Zugespitzt gefragt: Wenn alles Kunst ist, schützt die Kunstfreiheit dann alles? Ist die Kunstfreiheit dann das alles überragende Supergrundrecht des Grundgesetzes? Überragt sie im Rang gar den Schutz menschlicher Würde?
Die Antwort ist in der Theorie einfach, in der Praxis jedoch kompliziert und keinesfalls schematisch zu geben. Eindeutig lässt sich festhalten, dass die documenta eine systemimmanente hohe Attraktivität für die Platzierung zugespitzter bis radikaler Positionen aufweist. Das System der documenta wiederum basiert auf Toleranz und Vertrauen. Der Künstlerischen Leitung wird die Stadt zur Durchführung der Ausstellung anvertraut und alles, was im Rahmen der Gesetze dort veranstaltet wird, wird toleriert werden. Aber die veranstaltende Trägergesellschaft ist nicht verpflichtet alles schweigend zu tolerieren. Sie ist ein Akteur, der sich in Fällen, wie sie auf der documenta 15 aufgetreten sind, kontextualisierend äußern darf und dies zukünftig auch muss. Überdies sind die vorgenommenen Veränderungen in der Organisationsstruktur der Gesellschaft sowie die Einrichtung des Wissenschaftlichen Beirats und die Etablierung des Code of Conduct, sehr wesentliche Resultate aus der erfolgten Organisationsuntersuchung. Mit diesen Konsequenzen aus einer schweren Krise der Ausstellung geht die documenta auch für andere Ausstellungsformate beispielgebend voran.
2. Viele Städte fördern kulturelle Großprojekte und wollen dabei künstlerische Freiheit mit gesellschaftlicher Verantwortung in Einklang bringen. Welche Strategien empfehlen Sie, damit das gelingen kann?
Es ist vielerorts an der Zeit neue wie auch bestehende kulturelle Projekte und Institutionen in kommunaler Trägerschaft daraufhin zu untersuchen, welche Schutzmechanismen und welches Selbstverständnis dem Handeln der Trägerin oder des Trägers zur Verfügung steht – und wie dies verankert ist. Öffentlich getragene und maßgeblich öffentlich geförderte Kultureinrichtungen und -projekte sollten in die Lage versetzt werden, sich transparent äußern zu können, wie sie ihren Kulturauftrag und ihren Kulturanspruch erfüllen möchten und dabei gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Zentral ist dabei, dass fördernde Träger nicht als stumme Betrachter der künstlerischen Äußerungsformen agieren, die sie (mit ihrem Geld und ihrer personellen Unterstützung) ermöglichen. Vielmehr sollten sie ein Verständnis als tolerante Akteure entwickeln. Toleranz kann dabei im Wortsinne bedeuten, auch scheinbar unerträgliches im Rahmen der künstlerischen Freiheit ertragen zu müssen. Die Eigenschaft als Akteur bedeutet aber kein stummes Ertragen, sondern der Träger als Akteur darf und muss sich gegebenenfalls hör- und sichtbar positionieren, um seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Hierbei kann auch ein beratendes Gremium sinnvoll sein, dessen Mitglieder ein Interesse am Bestehen der Institution oder des Projekts haben, aber dennoch eine kritische fachliche Begleitung vornehmen können.
3. Wie können Städte und Kulturverantwortliche das Vertrauen von Öffentlichkeit und Politik in die Kultur als offenen Raum für den gesellschaftspolitischen Diskurs langfristig sichern?
Dieser "offene Raum für den gesellschaftspolitischen Diskurs" benötigt Regeln und einen Rahmen, beides muss erkennbar und vorinstalliert sein, angeknüpft an die jeweilige Kulturinstitution: Spontan installierte Regeln hingegen erwecken den Verdacht von Willkür, situativ veränderte Rahmen erwecken den Anschein von Beliebigkeit. Für die zu schützende Menschwürde braucht es Vertrauen in installierte Regeln und einen Rahmen: im Vorfeld von Veranstaltungen und Diskursen wie auch im Fall eines Konflikts, wenn sich deren Anwendung und Belastbarkeit unter Beweis stellen muss.
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Stadt Kassel, Ben Wolf
Oberbürgermeister Dr. Sven Scholler