Nach Ampelbruch
03.12.2024

"Wir merken klar: Der Wind wird rauer"

Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, im Interview mit dem Weser-Kurier
  • Porträtbild von Helmut Dedy

Weser-Kurier: Herr Dedy, sind die Städte mit ihren Forderungen in den vergangenen Monaten lauter geworden?

Helmut Dedy: Es gab schon einmal sehr laute Zeiten, Anfang der 1970er-Jahre, als die Städte Sorgen hatten unterzugehen und in finanzpolitischen Schwierigkeiten steckten. 1971 war Hans-Jochen Vogel Oberbürgermeister Münchens und Städtetagspräsident. Damals führte er die Kampagne an "Rettet unsere Städte jetzt!". Natürlich versuchen wir auch heute, deutlich zu sein, wir versuchen, mit dem zu überzeugen, was unsere Städte erleben. Der Druck ist hoch, der Ärger in Teilen auch, die Forderungen sind kräftig, aber die Not ist auch groß.

Weser-Kurier: Geht es den Städten denn schlechter als vor zehn oder 20 Jahren?

Helmut Dedy: Wir geraten in eine Finanzsituation, die sich gewaschen hat. Wir fahren ein sattes Defizit ein, bei immer mehr Aufgaben, die Bund und Länder beschließen. Darunter sind viele Transformationsaufgaben, die gesellschaftlich gewollt und sinnvoll sind – wie beispielsweise die Wärmeplanung. Wir müssen die Städte umplanen und umbauen. Das kostet Geld. Nicht anders ist es mit dem schulischen Ganztag: Ihn anzubieten ist zweifellos richtig. Das ist eine Aufgabe, die die Städte gerne erledigen wollen, die aber bisher nicht durchfinanziert ist. Hier muss der oft strapazierte Satz gelten: Wer bestellt, bezahlt. Wer bestellt und nicht bezahlt, verhält sich unseriös.

Weser-Kurier: Ist die unzureichende Finanzierung das größte Problem für die Städte, die mehr und mehr gesamtgesellschaftliche Aufgaben übernehmen sollen und wollen?

Helmut Dedy: Wir wollen, genau wie Bund und Länder, dass Schulkinder in der Grundschule gut betreut werden und mehr Zeit zum Lernen haben. Wir wollen Inklusion und Wärmeplanung, aber wir können das allein nicht finanzieren. Das Problem, mehr Aufgaben zu übernehmen ohne finanziellen Ausgleich, ist nicht ganz neu, aber es spitzt sich von Jahr zu Jahr zu. Der Druck auf mehr und mehr Städte steigt erheblich, nicht auf alle, aber eine ganze Reihe.

Weser-Kurier: Wie stehen die Stadtstaaten im Großstadtvergleich da?

Helmut Dedy: Man kann die Stadtstaaten nicht mit gleich großen Städten vergleichen, weil sich bei ihnen Landes- und städtische Aufgaben überlappen, ob bei Bildung, Polizei oder Justiz. Ich habe aber auch den Eindruck, dass die Stadtstaaten sich mit vielen Problemen beschäftigen, die wir auch von anderen Großstädten kennen.

Weser-Kurier: Gibt es unter den Städten des Deutschen Städtetages Sorgenkinder, die besonders mit den von Ihnen beschriebenen Schwierigkeiten ringen? Bremerhaven, Leipzig oder Gelsenkirchen?

Helmut Dedy: Eine solche Einordnung ist heikel: Weist man nicht auf die Probleme hin, die beispielsweise Gelsenkirchen oder auch Bremerhaven haben, hilft es den Städten nicht. Wenn man aber immer und ausschließlich auf die Probleme hinweist, hilft man ihnen auch nicht wirklich. Ich glaube, es ist wichtig, nach vorne zu schauen und Perspektiven zu entwickeln, trotz aller Schwierigkeiten, die meist auf einen Strukturbruch zurückzuführen sind. Die Lage kann sich verbessern, aber auch verschlechtern. Denken Sie an die VW-Debatte: Was geschieht, wenn die Standorte in Wolfsburg, Zwickau und Emden verkleinert oder geschlossen werden? Dann haben drei Städte ganz neue und ganz große Probleme.

Weser-Kurier: Gibt es noch ein Nord-Süd-Gefälle, was die Lage der deutschen Städte betrifft? Reich im Süden, arm im Norden?

Helmut Dedy: Es gibt eine Durchmischung. Wenn Sie den Bayern sagen, dass sie reicher seien, legen die ihnen dar, dass das nicht stimmt, weil sie andere Aufgaben erfüllen müssen. Wir im Städtetag sind der Meinung, dass ein solches Ranking wenig hilfreich ist. Anderen Städten geht es anders, alle stehen vor großen Herausforderungen.

Weser-Kurier: Wie könnte eine auskömmliche Finanzierung hergestellt werden? Über die Steuerverteilung?

Helmut Dedy: Die Kommunen müssen einen höheren Anteil am Steueraufkommen erhalten. Unseres Erachtens wäre ein größerer Anteil der Umsatzsteuer ein notwendiger Weg, das sehen die Länder und der Bund derzeit noch anders.

Weser-Kurier: Mit welchen Folgen rechnen Sie aufgrund der aktuellen Ereignisse in Berlin? Wird es leichter oder schwerer für die Interessen der Städte?

Helmut Dedy: Wir merken ganz klar, der Wind wird rauer und die Ressourcen knapper. Vieles ist derzeit noch in der Schwebe. Sicher ist nur, dass es zunächst eine vorläufige Haushaltsführung für 2025 geben wird, deren Ende noch nicht absehbar ist. Das kann auch einzelne kommunale Bereiche erheblich treffen. Wir brauchen deshalb schnell von allen Parteien im Bundestag das glasklare Bekenntnis, dass sich die Städte auch nach der Neuwahl auf zugesagte Fördermittel und die Finanzzusagen des Bundes verlassen können – ganz gleich, wer die neue Bundesregierung stellt. Planungssicherheit ist entscheidend. Für die Städte, aber auch für Investoren und die Bürgerinnen und Bürger, die Förderung beantragt haben.

Weser-Kurier: Sind manche Schwierigkeiten, die Städte haben, nicht auch hausgemacht – wie beispielsweise das Ausbluten der Innenstädte?

Helmut Dedy: Es gibt auch hausgemachte Probleme, sicher. Auch Stadtplanerinnen und -planer sind Kinder ihrer Zeit. In den Innenstädten ist nicht alles Gold, was damals geglänzt hat. Was in den 70er-Jahren en vogue war, will man heute auf keinen Fall mehr haben. Das Bild der Stadt verändert sich – von der autogerechten Stadt zur grünen, produktiven, am Gemeinwohl orientierten Stadt. Die Städte gestalten heute ihre Innenstädte so, dass sie Lebensqualität bieten, dass sie mehr sind als Betonwüsten. Mein Sohn ist 20, er hat einen anderen Blick auf die Innenstadt als ich. Für junge Leute müssen Innenstädte wieder attraktiver werden. Ich glaube, dass wir da noch eine Menge machen können. Schulen oder Hochschulen können eine Rolle spielen. Oft entsteht ein Campus auf der grünen Wiese, Leipzig hat die Uni in der Innenstadt massiv ausgebaut. Das hat die Innenstadt belebt, dort herrscht ein ganz anderes Flair. Es macht Sinn, vergleichbare Städte zu besuchen und zu schauen, was man vielleicht abgucken kann.

Weser-Kurier: Der Wohnungsmangel gehört zu den Themen, die den Deutschen Städtetag seit einiger Zeit beschäftigen, weil seine Mitglieder darunter leiden. Bremen will den Wohnungsbau durch den Abbau von Bürokratie beschleunigen. Wie beurteilen Sie das?

Helmut Dedy: Die Anforderungen von Ländern und vom Bund machen den Bauwilligen und unserer Bauaufsicht das Leben oft ziemlich schwer. Erleichterungen wären wünschenswert. Zum Beispiel serielles Bauen oder Bauen mit alternativen Baustoffen: Es gibt 16 Bundesländer mit 16 Bauordnungen. Diese weiter zu vereinheitlichen, wäre hilfreich. Beispiele zum Bürokratieabbau wie diese gibt es viele. Da ist aus meiner Sicht noch jede Menge Luft nach oben.

Weser-Kurier: Über Bürokratieabbau wird allerdings schon seit Jahrzehnten geredet.

Helmut Dedy: Vielleicht ist das eine Mentalitätsfrage. Nachdem ein Mensch im Rhein ertrunken war, hat Herbert Schnoor, ehemaliger Innenminister in Nordrhein-Westfalen, gesagt: Wenn man diesen Unfall zum Maßstab nimmt, um für umfassende Sicherheit zu sorgen, müsste man den Rhein einzäunen. Nach solchen Vorfällen wird häufig gefragt, ob die Schutzvorkehrungen und die Auflagen ausreichend sind. Diese Mentalität erleichtert den Bürokratieabbau nicht. Manchmal habe ich den Eindruck, eine etwas entspanntere Herangehensweise würde uns in Deutschland ganz guttun.

Weser-Kurier: Um die Verkehrswende zu realisieren, brauchen die Städte, heißt es auf der Homepage des Deutschen Städtetages, nicht nur mehr Investitionskraft, sondern auch mehr Handlungsspielräume. Welcher Spielraum fehlt?

Helmut Dedy: In diesem Jahr gab es eine große Debatte um die Straßenverkehrsordnung, genauer um die Frage, wer festlegen darf, wie schnell wo gefahren werden oder wo man einen Radweg ausweisen darf. Wir sagen, das muss weitgehend vor Ort entschieden werden. Mir wäre lieb, wenn Bund und Länder uns mehr Beinfreiheit gäben, damit solche verkehrspolitischen Fragen in der Stadt und im Kiez entschieden werden können.

Weser-Kurier: Es hat sich auch etwas getan, zumindest was Tempo-30-Zonen betrifft.

Helmut Dedy: Das stimmt, die Städte haben seit Kurzem in der Tat etwas mehr Möglichkeiten, sie sind aber nicht so weitgehend, wie wir sie uns erhofft haben. Ich wünsche mir mehr Vertrauen in die Entscheidungen der Politikerinnen und Politiker vor Ort. Vielleicht geht es sogar etwas größer: Mehr Vertrauen von Bund und Ländern in die Städte und mehr Respekt vor der Expertise vor Ort, wo Menschen für Menschen entscheiden.

Weser-Kurier: Im Vorwort des Magazins "Städtetag aktuell" schreiben Sie in Zusammen-hang mit dem Anschlag in Solingen: "Migration, Zuwanderung, Asyl und Geflüchtete: Nicht selten werden diese Begriffe inzwischen synonym verwendet. Das erschwert die Debatte und die politische Kommunikation. Es geht um unterschiedliche Herausforderungen, für die es unterschiedliche politische Ansätze braucht. Die Städte wissen das. Ihre Kraft ist der Pragmatismus. Sie wissen sehr genau, was vor Ort gebraucht wird, was geht und was nicht geht." Was geht denn und was nicht?

Helmut Dedy: Es geht mir dabei um zwei Punkte, die mir Sorgen machen: Zum einen führen wir in Deutschland aus meiner Sicht oft keine zielorientierte Debatte über Migration. Wir werfen alles durcheinander. In einer Talkshow kann es passieren, dass über Migration geredet wird und damit das eine Mal der Zuzug von Fachkräften gemeint ist, ein anderes Mal die Klingenlänge aus Angst vor Terrorangriffen. Alles ist irgendwie Migration, und das führt zu keiner lösungsorientierten Debatte. Zum anderen besorgt mich, dass die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss in der öffentlichen Debatte zu verschwinden scheint. Ich denke, wir brauchen mehr Nachdenklichkeit und mehr Differenzierung. Die Menschen, die zu uns kommen, sind sehr unterschiedlich, ihre Motive sind es auch. Man muss das auseinanderhalten. Wenn alles in einen Topf geschmissen wird, ist das nur Futter für Populismus.

Weser-Kurier: Inwiefern ist Pragmatismus die Kraft der Städte?

Helmut Dedy: Wir wissen, was wir können. Wenn jemand zu uns kommt, dann werden wir ihn nicht unter der Brücke schlafen lassen. Aber es ist nicht akzeptabel, wenn jemand mit 27 Identitäten unterwegs ist, um sich zu bereichern und andere zu gefährden. Und welche Bürgermeisterin, welcher Bürgermeister möchte das Risiko eingehen, einen solchen Gefährder in der Stadt unterzubringen? Will sagen: Die Städte machen vieles möglich, um Schutzbedürftige an- und aufzunehmen. Aber sie wissen auch um die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Die Folgen ungehemmter irregulärer Migration werden sie nicht stemmen können.

Weser-Kurier: Was unterscheidet die Städte von morgen von den Städten von heute? Welche Vision haben Sie?

Helmut Dedy: Eine Zukunftsfrage wird sein: Wie gelingt es uns, mehr Menschen vor Ort an Entwicklungen und Planungen zu beteiligen. Menschen wissen, wie sie leben wollen. Man muss sie nur zu Wort kommen lassen, Spielräume für das Mittun und immer wieder auch für das Entscheiden eröffnen. Die Stadt von morgen braucht Auseinandersetzung und Kompromisse. Wenn das Gemeinwohl die Richtschnur für die örtliche Politik ist, kann vieles gelingen.

Quelle: Ausgabe des Weser-Kurier vom 30. November 2024. 
Das Gespräch führte Silke Hellwig.