"Die Stadt gehört allen, die dort leben"
Die Coronapandemie hat immense Auswirkungen auf unsere Innenstädte und die gesamte Stadtentwicklung. Neue, gute Ideen für unsere Städte sind gefragter denn je. Markus Lewe, Vizepräsident des Deutschen Städtetages und Oberbürgermeister der Stadt Münster, sprach mit dem Magazin greenup über seine Vision für die Innenstädte.
greenup: Die Innenstädte haben sich in den letzten Jahren massiv gewandelt. Welche Auswirkungen hat die Coronapandemie?
Markus Lewe: Die Städte verändern sich stetig. Sie sind Spiegel gesellschaftlicher Trends. Und so lässt sich auch der Boom des Onlinehandels an den Innenstädten ablesen. Läden, selbst in Toplagen, stehen heute leer. Corona hat diese Entwicklung beschleunigt. Manchen Läden ging es an die Substanz, sogar große Handelsketten sind ins Straucheln geraten. Zeitgleich haben sich die Kunden noch mehr an den Einkauf vom Sofa aus gewöhnt. Wir wissen: Handel wird nicht überall Handel ersetzen. Dennoch sind die Innenstädte kein Auslaufmodell. Sie sind das Herz der Städte. Damit es wieder pulsiert, wollen wir sie neu denken und mit vielfältigen Inhalten füllen. Was bleibt:
Die Innenstadt ist unersetzbar für die Stadtgesellschaft. Denn sie gibt Identifikation und ist Treffpunkt für die Menschen. Sie hat großes Potenzial sich neu zu erfinden.
greenup: Wie gelingt es, die Innenstädte und Stadtteilzentren hin zu zukunftsfähigen multifunktionalen Orten weiterzuentwickeln?
Markus Lewe: Die Menschen gehen nicht mehr nur in die Stadt um einzukaufen. Der Drang rauszugehen, am urbanen Leben teilzunehmen, ist groß. Wie sehr wir das vermisst haben, haben wir alle in der Coronapandemie erlebt. Das zeigt, dass wir unsere Innenstädte und Stadtteilzentren nach diesen Bedürfnissen orientieren müssen. Das ist im Kern nichts Neues.
Denn die europäischen Städte waren schon immer mehr als bloße Handelsplätze. Sie sind auch Schauplätze, Kommunikationsplattform, soziales und kulturelles Erlebnis.
Deshalb wollen wir die Innenstädte umgestalten und neue Mischungen ermöglichen. Da braucht es Raum für Begegnungen, mehr Grünflächen, kulturelle und soziale Angebote. Reine Fußgängerzonen mit Geschäften, umgeben von autogerechter Stadtlandschaft – das ist überholt. Was früher aus den Stadtzentren outgesourct wurde, muss wieder herein, zum Beispiel Werkstätten für Handwerker. Aber auch Neues gehört dazu, etwa Co-Working-Spaces oder Pop-up-Stores für regionale und nachhaltige Waren. Es gibt viele kreative Ideen direkt aus der Stadtgesellschaft. Schulen, Kitas, Sportplätze, Bibliotheken und Universitäten können die Stadtzentren beleben. Von dieser Vielfalt der "neuen" Innenstadt werden auch die Läden und Handelsketten profitieren. Und: In Innenstädten müssen wieder mehr Menschen wohnen können.
greenup: Das heißt konkret, beispielsweise für die Stadt Münster in Westfalen?
Markus Lewe: Bei all den neuen Konzepten und Analysen zur Gestaltung der Stadt der Zukunft, die ständig entwickelt werden, fehlt mir oft die eine entscheidende Frage. Nämlich, wem die Stadt gehört. Die Antwort darauf ist eindeutig: Allen, die dort leben. Deshalb schauen wir in Münster ganz genau, wie wir den Menschen die Zwischenräume von gebauter Stadt aufschließen können. Zum Beispiel läuft gerade in der unmittelbaren Innenstadt einer von mehreren Verkehrsversuchen, bei dem es darum geht, Stadtraum für die Bürgerinnen und Bürger wieder anders nutzbar zu machen. Hierfür wird der Bus vorübergehend aus der Hörsterstraße genommen und Parkplätze werden als Aufenthaltsorte genutzt. So entsteht dort automatisch für die Anwohnerinnen und Anwohner wieder ein echtes Kiez-Gefühl. Der Effekt ist vor allem, dass die Menschen in der Innenstadt "ihre" Stadt erleben können, die sie selbstverständlich wie ein Wohnzimmer oder eine Terrasse betreten und in der sie sich mit Freunden und anderen Menschen treffen. Veranstaltungen wie das gemeinsame Weihnachtslieder-Singen im Advent in Münster oder eine große Kopfhörer-Party zum Europatag, bei der Jung und Alt auf dem Prinzipalmarkt tanzen - ohne große Emissionen - sind solche Beispiele.
greenup: Wie wird der strategische Gesamtprozess für die Transformation zur resilienten, nachhaltigen Innenstadt 2030 gestaltet?
Markus Lewe: Wir benötigen einen starken Transformationsprozess. Neue Nutzungen in die Innenstädte, klimaschonende Energieversorgung, energetische Sanierungen, nachhaltige Verkehrsangebote, aber auch Anpassung an die Folgen des Klimawandels. An all diesen Baustellen arbeiten die Städte. Das alles kostet viel Geld. Hinzu kommen auch noch die finanziellen Folgen der Corona-Pandemie, die auf die städtischen Haushalte drücken. Im Klartext:
Ohne ein klares Signal des Bundes und der Länder werden wir die Innenstädte nicht umgestalten können. Zu den Forderungen der Städte an die neue Bundesregierung gehört deshalb ein Investitionsprogramm des Bundes.
Wir haben als Deutscher Städtetag 2,5 Milliarden Euro, verteilt über 5 Jahre ins Spiel gebracht. Das kann die Städte unterstützen, den Innenstadt-Wandel weiter zu entwickeln. Auch rechtliche Hürden müssen abgebaut werden, etwa beim Bauplanungsrecht. Es muss einfacher möglich sein, Flächen in Mischformen zu nutzen, also etwa Handel, Kultur, Arbeiten und Wohnen unter einem Dach zu vereinen. Städte brauchen diesen Raum für Experimente.
greenup: Welche Rolle kann die Digitalisierung spielen?
Markus Lewe: Digitale Services sind ein Baustein, um die Innenstädte fit zu machen für die Zukunft. Hier gibt es auch Chancen für kleine Händler und regionale Angebote. In vielen Städten verkaufen zum Beispiel Biobauern aus dem Umland ihre Ware über das Internet und liefern direkt an die Haustür der Wohnung. Online bestellen, lokal liefern oder im Laden abholen – das ist eine Nische, wo der lokale Handel punkten kann.
Mit freundlicher Genehmigung des Magazins greenup - Nachhaltiger leben!